2. Sonntag im Jahreskreis:   
Erblindet - verblendet    

Die Vorstellung, nicht sehen zu können, bleibt für uns Sehende im Grunde unvorstellbar. Mal für eine Zeit lang die Augen zu schließen, ist nicht annähernd das selbe.
Jesus verliest in der Synagoge von Nazareth, wo er aufgewachsen war, eine Verheißung des Propheten Jesaja. Und das alles entscheidende Schlußwort läßt die Menschen aufhorchen: Heute hat sich dieses Wort an euch erfüllt...
... daß er nämlich den Armen eine gute Nachricht bringt, den Gefangenen die Entlassung verkündet, den Blinden das Augenlicht, daß er die Zerschlagenen in Freiheit setzt, und ein Gnadenjahr des Herrn ausruft.
Da horchen die Menschen auf. Da sagt einer mal, daß die Bibel etwas mit mir zu tun hat, nicht nur dann, wenn es um Sünde und Schuld geht, um Versagen vor Gott, sondern gerade dann, wenn Gott etwas zusagen möchte: Lebensfreude.
Wenn ich selbst hin und wieder irgendwo in einer normalen Kirchenbank einen Gottesdienst mitfeiere, schließe ich oft bei der Predigt die Augen, und lasse dort Bilder an mir vorbeiziehen, die mir die Predigt eingibt.
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Aber wenn ich mich dann plötzlich einmal ganz persönlich angesprochen fühle, weil der Prediger mein Herz berührt hat, dann springen mir die Augen auf. Dann will ich ihn sehen, der mir das sagt. Dann erkenne ich mit Herz und Sinn, daß es um mich geht. Dann ist die Verblendung des Alltäglichen mit einem Mal zum Licht geworden, das die Fesseln meines Lebens sprengen kann und den Kerker meine Alltags aufreißt. Dann erkenne ich, wie arm mein Leben bisher war, und wie blind mein Herz. – Ja, es stimmt, sehr oft geschieht es nicht, aber wenn es geschieht, dann...



(C) 2001 Heribert Ester