Lesesaal   
Johannes XXIII. und die Versöhnung

Vor genau vierzig Jahren wurde der Tod Johannes XXIII. gemeldet. Mit den Brüdern war ich damals gerade auf dem Weg zum Abendgebet. Sofort stellte sich die Frage: Was wird aus Taizé ohne diesen geschätzten Papst? Vielleicht habe ich auf Erden keinen anderen Menschen so verehrt wie Johannes XXIII. Er hat die Berufung unserer Communauté nachhaltig geprägt. Deshalb ging es uns nahe, als Johannes-Paul II. bei seinem Besuch in Taizé 1986 sagte: "Ich möchte euch meine herzliche Verbundenheit mit den einfachen Worten Ausdruck geben, mit denen Papst Johannes XXIII., der euch überaus liebte, einmal Frère Roger begrüßte: ,Oh, Taizé, der kleine Frühling!‘".
Wenn jemand eine Aufgabe übernimmt, die seine Kräfte bis zum Lebensende beansprucht, drückt sich häufig in den ersten Intuitionen aus, was ihm am meisten am Herzen liegt. Gleich zu Beginn seines Dienstamtes, bei der Ankündigung eines Konzils, stellte Johannes XXIII. die seit Jahrhunderten zerspaltenen Christen vor eine völlig neue Perspektive: "Wir werden nicht untersuchen, wer unrecht hatte und wer im Recht war. Die Verantwortung ist geteilt. Wir werden einfach sagen: Versöhnen wir uns!" Bei einer so klaren Aussage mußte Johannes XXIII. begriffen haben, daß die Christen durch ihre Trennungen an Glaubwürdigkeit einbüßen.
Am Ende seines Lebens entfaltete Johannes XXIII. seine Vision der Versöhnung in ihrer ganzen Fülle. Mit zwei anderen Brüdern haben wir dies bei einem letzten, langen Gespräch mit ihm erlebt. Wir waren uns bewußt, daß wir ihn nicht wiedersehen würden, und wollten von ihm eine Art geistliches Testament hören. Johannes XXIII. war daran gelegen, daß wir hinsichtlich der Zukunft unserer Communauté unbesorgt seien. Er machte mit den Händen kreisförmige Bewegungen und erläuterte: "Die katholische Kirche besteht aus wachsenden konzentrischen Kreisen, größer, immer größer."
Nach dem Tod Johannes XXIII. hatten wir mehrmals Giuseppe Roncalli, den jüngsten Bruder des Papstes, und andere Verwandte zu Gast. Der betagte Mann nahm alles aufmerksam in Augenschein. Er bemerkte unter anderem, wie ärmlich die Jugendlichen auf unserem Hügel untergebracht waren. Eines Abends sagte er zu seinem Enkel: "Von Taizé wird etwas ausgehen, was mein Bruder begonnen hat." Der Bauer aus der Gegend von Bergamo hatte verstanden, wie sehr wir seinem Bruder zugetan waren, und er wußte, daß diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte.
Jesus Christus, über jeden Menschen, der sich dir in Demut und Einfachheit nähert, gießt du dein Erbarmen aus. Mit dem seligen Johannes XXIII. möchten wir begreifen, wie sehr das Beste in unserem Leben durch schlichtes Vertrauen auf dich entsteht. Selbst ein Kind kann es aufbringen.

Frère Roger, Taizé

Quelle: Taizé Aktuell 21.07.2003

 

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